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Fallbeispiel: Elisabeth A.

woman with a hat

Elisabeth A. ist in Hamburg geboren. Sie studiert Kunstgeschichte und Klassische Archäologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 

"Im Sommer 2018 feierte mein Cousin Adrian seinen 30. Geburtstag. Meine Familie ist sehr groß, weshalb keine Freunde oder andere Bekannte meines Cousins eingeladen waren, sondern nur Familienmitglieder. Adrians Mutter kommt aus Spanien und er ist dort ebenfalls als Kind aufgewachsen, hat dort studiert und ist vor einigen Jahren mit seiner spanischen Freundin Pili nach Deutschland gezogen. An dem Abend seiner Geburtstagsfeier wollten die beiden ihre Verlobung verkünden. Daher waren auch Pilis Eltern aus Spanien zu Besuch, um den deutschen Teil der Familie ihres zukünftigen Schwiegersohnes kennenlernen. Die meisten meiner Familienmitglieder sprechen kein oder sehr schlechtes Spanisch und Pilis Eltern sprechen kein Englisch. Vor der gegenseitigen Begrüßung hat Adrian uns alle einander vorgestellt. Anschließend haben wir uns einzeln persönlich begrüßt, was jedoch etwas unglücklich verlief. Pilis Eltern haben die Gäste sehr herzlich umarmt und Begrüßungsküsschen auf die Wange gegeben, während meine deutschen Familienmitglieder vorwiegend die Hand geben wollten. Die Situation war etwas verkrampft, da es vor allem auch durch die sprachliche Barriere und durch die vielen Hintergrundgespräche nicht die Möglichkeit gab, diese aufzuklären. Meiner Auffassung nach wirkten Pilis Eltern anschließend verunsichert. Obwohl ich beim Kennenlernen neue Menschen persönlich eher zurückhaltend begrüße, habe ich mich der Begrüßung von Pilis Eltern angepasst, da ich wollte, dass sie sich willkommen und wohlfühlen und nicht  denken, sie hätten sich falsch verhalten. Mir war die Situation etwas unangenehm und ich hätte mir von dem deutschen Teil meiner Familie mehr Anpassung und Gastfreundschaft gewünscht."

female portrait

Marwa O. ist in Kiel geboren und aufgewachsen. Sie studiert an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Da ihre beiden Eltern aus Afghanistan kommen, hat sie schon immer zwischen zwei Welten mit verschiedenen Kulturen gelebt, die aus ihrer Sicht in einem dauernden Konflikt stehen.

INTERPRETATION

Jedes Land hat seine eigene Begrüßungsform, die sich sehr voneinander unterscheiden kann. In  Deutschland gibt man sich die meiste Zeit die Hand oder umarmt sich, wenn man die andere Person besser kennt. Das Küsschen geben auf die Wange ist doch etwas sehr Fremdes hier, obgleich es in  vielen Ländern der Welt die Standardbegrüßung ist. In diesem Fall kann es auf der Seite der deutschen Familie auch zu Unannehmlichkeiten in Bezug auf körperliche Nähe gekommen sein, was ihre verkrampfte Haltung erklären könnte. Wichtig ist aber, immer offen zu sein gegenüber neuen Menschen und ihrer Kultur und bei Unklarheiten lieber nachzufragen als unfreundlich zu reagieren. 

Interpretationen
Glückliche Frau

Isabella (34), verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Deutschland. Sie ist zweisprachig und in zwei Kulturen aufgewachsen, mit argentinischer Mutter und deutschem Vater. Nach der Schule wanderte sie nach Spanien aus, wo sie als Projektmanagerin tätig ist.

INTERPRETATION

Die Geschichte spiegelt eine ziemlich häufig vorkommende Situation wider für jemanden, der mehr als eine Kultur kennt. Eine kulturelle Konfrontation besteht zunächst immer. Man wird mit bestimmten Werten erzogen, entsprechend der Gesellschaft, in der man aufgewachsen ist. Diese bilden eine Reihe von Werten und man lebt nach ihnen. Wenn man dann eine andere Kultur kennenlernt, ist man zunächst sehr interessiert, diese neue Kultur und deren Sitten und Bräuche kennenzulernen. Aber dann kommt das Unvermeidliche: der Vergleich. Man stellt die Bräuche der neuen Kultur mit denen der eigenen Kultur gegenüber. Diese Situation führt zu Veränderungen in einem selbst.

Adrian und Pili können das alles sehr klar sehen. Sie kennen beide Kulturen gut. Ich denke, dass die beiden (die die Begrüßungssituation aus einer ganz anderen Perspektive als die von Pilis Eltern und Adrians deutscher Familie sehen) wahrscheinlich die Situation mit Spannung verfolgt haben. Wer die Kultur des anderen kennt, dem fällt es natürlich leichter, zu entscheiden, wie er grüßen soll. Aber nicht jeder hat das Glück, mehr als eine Kultur gut zu kennen und zu verstehen, wie die Personen denken, wie sie sich verhalten und vor allem, warum. Wenn ich das weiß, kann ich mich als glücklichen Menschen ansehen, denn ich habe meinen Horizont erweitert. Ich bin offener, toleranter und vor allem in der Lage, mich auf neue Dinge einzustellen.

Ich bin sicher, dass sowohl Pilis Eltern als auch die Mitglieder von Adrians Familie eine unangenehme erste Begegnung hatten. Nicht in der Lage zu sein, sich in einer Sprache zu verständigen, bringt Unsicherheit und die Angst mit sich, sich zu blamieren. Aber ein liebevoller Blick, ein Lächeln und einen gemeinsamen Moment des Glücks zu teilen, könnte meiner Meinung nach die Anspannung des ersten Moments mindern. 

Vielleicht hätte ich an Pilis Stelle meine Eltern vorgewarnt und ihnen mitgeteilt, was auf sie zukommt. Auf diese Weise hätte ich ihnen einen unangenehmen Moment erspart. Adrian hätte das Gleiche mit seiner deutschen Familie tun können und sie vor dem warnen können, was sie an diesem Tag erleben würden. Vielleicht wollten sie aber auch erst einmal den Dingen ihren Lauf lassen.

Ich selber habe eine ähnliche Situationen erlebt. Das war, als ich im Alter von drei Jahren in den Kindergarten kam. Bis dahin war die Person, mit der ich die meisten Stunden verbrachte, meine Mutter. Sie lehrte mich nicht nur die Sprache, sondern auch die argentinischen Sitten. Und Umarmungen und Küsse kamen bei mir zu Hause nie zu kurz. Deshalb wollte ich, als ich den Kindergarten betrat, alle Kinder küssen und umarmen, während sie mir die Hand reichten. Meine Mutter erzählt mir, dass die deutschen Mütter immer "Nein, mein Kind mag das nicht" sagten, wenn sie sahen, wie ich ihre Kinder umarmte oder küsste. Das kam also nicht so gut an.

Porträt lächelnde Frau

Sara S. (36) ist in Hamburg geboren, als Tochter einer deutschen Mutter und eines spanischen Vaters. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, hat aber eine große Familie in Spanien und viele Sommer dort verbracht. Seit 2013 lebt und arbeitet Sara in Schottland und erlebt dort viele interkulturelle Austausche im täglichen Leben. 

INTERPRETATION

Für mich ein ganz klassischer "Culture Clash". Zwei Familien aus zwei unterschiedlichen Kulturen treffen zum ersten Mal aufeinander und haben vielleicht vorher auch nicht viel Erfahrung mit der jeweils anderen Kultur gemacht. Dies lässt sich daraus schließen, dass es auch eine Sprachbarriere gab. In Spanien ist es üblich, fremde Menschen bei der Vorstellung zwei Küsschen auf die Wange zu geben; wenn es auch noch zukünftige Mitglieder der Familie sind, ist eine Umarmung dazu auch selbstverständlich. In Deutschland hingegen ist es aus meiner Sicht generell unüblich, viel körperlichen Kontakt zu Menschen herzustellen und schon gar nicht zu Menschen, die man nicht kennt. Sich die Hand zu geben ist hier Standard und selten wird der Deutsche einen fremden Menschen umarmen, geschweige denn küssen. 

 

Hinzu kommt eventuell auch noch ein Altersunterschied. Elisabeth beschreibt in ihrem Incident, dass sie sich den spanischen Gästen angepasst habe – obwohl man Elisabeths Alter nicht kennt, nehme ich an, dass sie deutlich jünger ist als die Eltern ihres Cousins. Jüngere Menschen haben heutzutage viel freieren Zugang zu unterschiedlichen Kulturen und kommen auch mit mehr Menschen aus unterschiedlichen Ländern in Kontakt. Für die ältere Generation ist diese Selbstverständlichkeit häufig nicht gegeben. Alles in allem nichts, was ein, zwei Gläser Wein nicht retten können!

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