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Fallbeispiel: Mayyas E.

smiling woman

Mayyas E. (19) kommt aus Syrien und lebt seit 2016 in Deutschland. Sie ist in einer multikulturellen Stadt außerhalb des Zentrums von Damaskus aufgewachsen. Inzwischen studiert sie Anglistik / Nordamerikanistik und Empirische Sprachwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 

"In Deutschland hatte ich mal eine Lehrerin, die mir erzählte, dass sie mit der syrischen Kultur nicht sehr vertraut war und noch nie bei einer syrischen Familie zu Besuch war.
Eines Tages wollte sie mir Bücher zum Deutschlernen vorbeibringen. Also ist sie bei mir zu Hause vorbeigekommen. Mein Vater bat sie herein. Meine Lehrerin meinte, sie hätte nicht viel Zeit und wollte nur die Bücher abgeben, aber meine Eltern haben darauf bestanden, dass sie sich ins Wohnzimmer setzt. Meine Mutter und sie haben sich dann über syrisches Essen unterhalten und meine Mutter hat ihr selbstgemachte Süßigkeiten zum Probieren gegeben. Meine Lehrerin sagte mehrfach, dass sie nun los muss, aber meine Eltern haben sie noch nicht gehen lassen, weil sie zum Beispiel noch nicht die Süßigkeiten aufgegessen hatte. Zwanzig, dreißig Minuten später konnte sie dann endlich gehen *lacht*. Am nächsten Tag hat sie zu mir gesagt, dass sie es ein bisschen merkwürdig fand, was passiert ist. Ich kann es ein bisschen verstehen, aber ich weiß nicht wirklich, warum sie sich so unwohl fühlte."

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Cynthia M. (22) ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Da ihre Familie aus Polen stammt, hat sie dort als Kind viel Zeit verbracht und somit die Kulturen beider Länder kennengelernt.
Cynthia studiert Pädagogik und Empirische Sprachwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

INTERPRETATION

Ich denke, dass die Lehrerin in erster Linie Hilfsbereitschaft zeigen wollte, indem sie Mayyas die Bücher zum Deutschlernen vorbeigebracht hat. Ich schätze, dass die Familie von Mayyas daraufhin ihre Dankbarkeit äußern wollte und dies durch eine freundliche Geste des Hereinbittens gezeigt hat. Ich kann mir vorstellen, dass Mayyas ihrer Familie von ihrer Deutschlehrerin erzählt hat und auch erwähnt hat, dass diese nicht so viel über die syrische Kultur weiß. Da Mayyas Familie aus einer multikulturellen Stadt kommt, wollte Mayyas Familie durch die Geste des Hereinbittens vielleicht auch einen kulturellen Austausch ermöglichen. Dass sie die Lehrerin nicht gehen lassen wollten, weil sie die Süßigkeiten noch nicht aufgegessen hatte, könnte vielleicht auch heißen, dass die Eltern gerne die Reaktion der Lehrerin auf die Süßigkeiten erfahren hätten. Und ich denke auch, dass die Eltern durch die selbstgemachten Süßigkeiten zeigen wollten, dass sie sich daran erfreuen, wenn sie ihre Dinge und ihr Wissen im Rahmen eines kulturellen Austauschs weitergeben können. Sie haben scheinbar nicht direkt gesagt, dass sie sich darüber freuen würden, wenn die Lehrerin noch bleiben würde, sondern es über die Süßigkeiten ausgedrückt. Ich denke, dass die Lehrerin es deshalb ein bisschen merkwürdig fand, weil die Intention von Mayyas Familie nicht klar kommuniziert wurde, sondern eher durch Gesten und Taten gezeigt wurde.

Die Kombination aus Zeitmangel und der Freundlichkeit der Lehrerin spielt in der Situation wahrscheinlich nicht so gut zusammen. Ich kann mir vorstellen, dass es für sie schwierig war, weil sie Mayyas Familie gegenüber nicht unhöflich sein wollte, obwohl sie wegen ihrer Zeitnot das freundlich gemeinte Angebote eigentlich hätte ablehnen wollen. Ich muss sagen, ich kenne es in Deutschland auch nicht so, dass man, wenn man nur kurz etwas vorbeibringen will, direkt in das Haus hereingebeten wird – zumindest nicht, wenn man sich nicht etwas besser kennt. Deutsche genießen ja ihre Ruhe und ihre Privatsphäre sehr und wissen es auch sehr zu schätzen, wenn man nicht einfach in diese Privatsphäre eindringt. So könnte ich mir auch vorstellen, dass im Umkehrschluss die Lehrerin nicht unbedingt in die Privatsphäre einer anderen Familie, die ihr bis dato noch fremd war, eindringen wollte. Es ist ja auch so, dass die Deutschen gerne ihre Tür hinter sich schließen und wenn jemand reinkommen möchte, soll angeklopft werden. Ich kann mir vorstellen, dass es für beide Parteien angenehmer gewesen wäre, wenn sie – wie man auch klopft, wenn man die Privatsphäre des anderen betreten möchte – einen Termin vereinbart hätten, an dem man sich in einem informellen Rahmen trifft. Dann hätte man verhindert, dass eine der Parteien sich überrumpelt fühlt.

Ich denke, dass ich in einer solchen Situation ähnlich wie die Lehrerin reagiert hätte, wenn ich in Zeitnot gewesen wäre. Ich denke aber nicht, dass ich einer betroffenen Person wie Mayyas am nächsten Tag gesagt hätte, dass es mir ein bisschen merkwürdig vorkam. Ich glaube, das kann ein falsches Bild auf die freundlich gemeinte Geste werfen.

GOOD TO KNOW

In Cynthias Interpretation kommen in erster Linie zwei wichtige aber unterschiedliche kulturelle Orientierungen zum Ausdruck: Sachorientierung (= Aufgabe) versus Beziehungsorientierung. In eher sachorientieren Kulturen, wie in diesem Fall Deutschland, steht die Aufgabe an erster Stelle. Mayyas Deutschlehrerin wollte Mayyas die Bücher zum Deutschlernen vorbeibringen und mehr nicht. In beziehungsorientierten kulturellen Lebenswelten, wie Mayyas Familie aus Syrien, wird genau dieses Verhalten als unpersönlich und distanziert interpretiert. Beziehungsorientierte kulturelle Lebenswelten widmen sich erstmal dem guten "Arbeitsklima", sprich: Beziehungsaufbau, bevor sie "zur Sache" kommen. Daher servieren die Eltern zunächst Süßigkeiten.

Zusätzlich kommen in Cynthias Interpretation die unterschiedlichen Kommunikationsstile zur Sprache: implizite/indirekte Kommunikation im Gegensatz zur expliziten/direkten Kommunikation. Beide können zu Missverständnissen im interkulturellen Dialog führen. In kulturellen Lebenswelten, in denen eher explizit kommuniziert wird, wie z.B in Deutschland, wird meist direkt und ohne Umschweife gesagt, was man meint. Nicht selten wird jedoch genau das von Seiten der implizit-kommunizierenden Menschen als unhöflich und verletzend aufgefasst. Cynthia deutet darauf hin, dass Mayyas Familie ihre Intention nicht klar kommuniziert habe, sondern eher durch Gesten und Taten gezeigt habe. Handlungen dieser Art stellen direkt kommunizierende Menschen häufig vor ein Rätsel, wirken nicht selten herausfordernd und frustrierend – denn sie sind es nicht gewohnt, das Gemeinte aus Gesten herauszulesen.

Interpretationen
Lächeln älteren Mannes

Martin L. (62) unterrichtet seit vielen Jahren Deutschlernende verschiedenster kultureller Lebenswelten und Herkunftssprachen.

INTERPRETATION

Ich glaube, dass die Lehrerin ihre Teilnehmerin beim Lernen unterstützen und ihr daher sogar Bücher nach Hause bringen wollte. Sie war vielleicht in Zeitnot und hatte nicht erwartet, dass der Vater sie hereinbitten würde. Nach seinem Verständnis wäre es unhöflich gewesen, die Lehrerin seiner Tochter (die dazu noch so nett ist, ihr Bücher nach Hause zu bringen), nicht hereinzubitten und ihr in der guten Stube der Wohnung einen Platz anzubieten. Die Mutter fühlte sich verpflichtet, der Lehrerin etwas zum Essen anzubieten. Es sollte auch etwas Besonderes sein, das sie selbst gemacht hat und auf das sie stolz ist. Sie erwartet, dass der Gast alles probiert und aufisst, sonst wäre es unhöflich.

Die Lehrerin hat ein anderes Verständnis von Zeit von Höflichkeit. Sie ist vielleicht sehr beschäftigt und hat es eilig. Eine spontane Einladung durch die Eltern der Schülerin ist für sie überraschend, aber sie möchte auch nicht ganz unhöflich sein. Vielleicht empfindet sie es als aufdringlich, dass die Mutter sie scheinbar nötigt, alles aufzuessen und möglicherweise noch lobende Worte zu äußern für etwas, das sie vielleicht gar nicht mag. Sie erzählt ihrer Lernerin am nächsten Tag, dass sie es merkwürdig fand, was passiert ist, und kritisiert damit indirekt das Verhalten der Eltern.

Wäre ich selbst in Zeitnot gewesen, hätte ich einen wichtigen Grund genannt, warum ich nicht bleiben könnte, und um Verständnis gebeten. Ich hätte mich aber sehr bedankt und gesagt, dass man sich gern an einem anderen Tag unterhalten könnte und wie nett es sei, dann die Familie der Schülerin näher kennenzulernen und mehr Zeit füreinander zu haben.

Auf keinen Fall hätte ich am nächsten Tag zu der Schülerin gesagt, dass ich es merkwürdig fand, was passiert ist. Vielmehr hätte ich gelobt, wie nett und gastfreundlich die Eltern gewesen seien. Die Schülerin solle doch bitte ihre Eltern lieb grüßen und ihnen nochmals schönen Dank für die spontane Einladung sagen. Es ist wertvoll, Menschen wie die Schülerin zu kennen, die lernt, beide Systeme zu verstehen und einzuschätzen. Dies kann sich auch positiv auf den Umgang miteinander in einer immer diverser werdenden Gesellschaft auswirken und für alle bereichernd sein.

Ich habe auch viele Länder bereist und selbst längere Zeit in Großbritannien und Japan gelebt. Gerade in Japan gibt es sehr viele ungeschriebene Verhaltensregeln, und daher passieren leicht Missverständnisse im Umgang der Japaner mit Menschen ausländischer Herkunft wie mir. Ich habe also selbst erfahren, wie unterschiedlich die Konzepte von Zeit- und Raumwahrnehmung, von Höflichkeit und gesellschaftlichem Zusammenleben in der japanischen und meiner eigenen Kultur sind. Einige Dinge habe ich besser verstanden, aber vieles ist immer ein Geheimnis geblieben.

lächelnder Mann

Wael Al M. (30) ist gebürtiger Syrer und lebt seit 2016 in Kiel. In Syrien hat er begonnen, Jura zu studieren. In Deutschland möchte er jetzt Politik studieren.

INTERPRETATION

Meine Interpretation ist, dass die Situation aus Sicht der Lehrerin unangenehm war, weil sie so etwas bisher nicht erlebt hat. Ich kann aber auch verstehen, dass die Eltern gar nicht verstanden haben, dass es für die Lehrerin unangenehm war. Ich kann das Verhalten der Eltern erklären. In Syrien ist es üblich, dass, wenn wir jemanden einladen, diese Person zuerst “Nein, dankeschön” sagt. Und wir müssen dann beim zweiten oder manchmal sogar dritten Mal versuchen, dass diese Person rein kommt, obwohl es eigentlich irgendwie klar ist, dass sie sowieso hereinkommen wird. Aber so ist es halt kulturell üblich. Wir bitten die Person zwei bis drei mal herein und beim ersten Mal verneint sie.

Außerdem ist an dieser Situation besonders, dass es die Lehrerin der Tochter ist. Bei uns haben Lehrer und Lehrerinnen hohe Anerkennung in der Gesellschaft und sind Vorbilder. Ich finde, die Eltern waren vielleicht ein bisschen zu hartnäckig, aber ich denke, sie hatten in der Situation im Kopf, dass es ja die Lehrerin ihrer Tochter ist. Sie haben sich gefreut, dass die Lehrerin bei ihnen zu Hause ist und sie wollten halt etwas Nettes tun.

In einer ähnlichen Situation würde ich es genauso machen. Ich würde die Lehrerin auf jeden Fall mehrmals fragen, ob sie reinkommen möchte und ihr etwas zum Essen anbieten. Wenn sie sagt, dass es jetzt reicht und sie los muss, würde ich ihr allerdings ganz nett sagen: “Du bist hier immer herzlich willkommen, das ist wie dein zuhause. Du bist ja die Lehrerin meiner Tochter, du bist nicht fremd. Das bleibt deine Entscheidung, ob du gehen oder bleiben möchtest. Immer, wenn du Zeit hast, kannst du gerne vorbeikommen, das würde uns sehr freuen. Ich wünsche dir alles Gute.” Das wäre meine Reaktion gewesen.

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