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Fallbeispiel: Jasina Y.

lächelnde Frau

Jasina Y. kommt aus Syrien und lebt seit 2015 in Deutschland. Ihre Jugend hat sie in Griechenland verbracht und dort vier Jahre Kosmetologie und Ästhetik an der Alexandrio Technologic Fachhochschule TEI Thessaloniki studiert. Die griechische Kultur hat in ihrem Leben eine größere Rolle als die syrische Kultur gespielt. In Deutschland möchte sie gerne Geowissenschaften studieren.

"Ich habe fast zehn Jahre in Griechenland gelebt und komme eigentlich aus Syrien. Die griechische und die syrische Kultur sind sich sehr ähnlich. Als ich nach Deutschland kam, lernte ich eine ältere Frau kennen, die uns immer wieder geholfen hat. Sie ist nett und hilfsbereit und kommt immer gerne zu uns, aber zu sich hat sie uns nie eingeladen. Das war für mich ungewohnt, weil sie sehr distanziert war. Einmal wollte sie uns einen Schreibtisch geben. Als wir ihn abholen wollten, hat sie ihn vor die Tür gestellt, damit wir nicht hereinkommen. Wieso ist sie so distanziert? Das verstehe ich nicht."

lächelnde Frau

Vara H. kommt aus Syrien und ist seit 2014 in Deutschland. Sie studiert Elektrotechnik und Informationstechnik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

INTERPRETATION

Ich habe im Gegenteil die Situation erlebt, dass eine deutsche Frau uns zu sich einlädt. Sie will nicht zu uns kommen, sie sagt immer, dass unser Haus zu klein ist und sie uns keine Probleme machen will. Sie schickt uns oft eine Karte, z.B. zur Einschulung meiner Schwester. Wenn wir Hilfe brauchen, ist sie immer für uns da. Sie ist nett.

Meiner Meinung nach kommt es auf die Person drauf an. Wenn sie sonst immer hilfsbereit ist, finde ich es persönlich nicht so schlimm, wenn der Schreibtisch vor der Tür steht. Vielleicht hat sie keine Zeit gehabt oder kann den Tisch nicht tragen. Aber wenn die Person unfreundlich oder herablassend ist, ist es was anderes. Schnelle Beurteilungen sollte man vermeiden, wenn man nicht viel Kontakt mit mehr deutschen Personen hatte.

Interpretationen
lächelnde Frau

Roaa B. kommt aus Syrien und ist seit 2015 in Deutschland. An der Universität in Damaskus hat sie vor ihrer Flucht nach Deutschland drei Semester BWL studiert. 2019 hat sie ein Informatikstudium an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel begonnen.

INTERPRETATION

In Damaskus muss man eigentlich einen Termin machen, wenn man jemanden nachmittags besuchen möchte. Aber die meisten Leute kommen einfach ohne vorherige Absprache. Ich persönlich finde es besser, wenn man mir vorher Bescheid sagt, damit ich etwas vorbereiten kann. Vielleicht habe ich ja auch einen Termin, muss studieren oder lernen. Ich finde es nicht so gut, wenn man einfach so vorbeikommt.

Aber ich verstehe Jasinas Verhalten. Vielleicht fühlt sie sich nah zu dieser Person, weil sie zum Beispiel viel Zeit miteinander verbringen. Sie dachte, dass sie Freunde sind und sich ab und zu besuchen können. Es ist unhöflich bei uns in Syrien, wenn ich zum Beispiel eine Person häufig einlade und sie mich gar nicht einlädt. Für uns bedeutet das manchmal, dass ich der Person nicht gefalle und sie keinen Kontakt mehr möchte. Das Verhalten der deutschen Person finde ich nicht nett. Ich habe es selber nicht so erlebt. Meine Nachbarin und Bekannten sind sehr freundlich mir gegenüber. Wenn ich aber an Jasinas Stelle wäre, würde ich es auch als unhöflich empfinden.

Lächelnde junge Frau

Anna K. ist gebürtige Kielerin und studiert an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Soziologie und Pädagogik.
 

INTERPRETATION

Ich interpretiere die Situation so, dass die syrische Kultur sehr gastfreundlich ist und man immer gerne Leute um sich hat und Leute einlädt, man auf der anderen Seite aber auch erwartet zu Leuten eingeladen zu werden. Ein Geben und Nehmen also. Die deutsche Kultur ist meiner Meinung nach nicht so gastfreundlich und man trifft sich vielleicht auch nicht gerne zu Hause, sondern eher in Cafés oder Restaurants. So würde ich das Verhalten von der deutschen Frau deuten, weil das eigene Zuhause die Privatsphäre darstellt.

lächelnde Frau

Annika H. (47) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und unterrichtet im Bereich der sozial-kommunikativen Kompetenz und Selbstkompetenz. Sie ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Auf zahlreichen kürzeren und längeren Reisen hat sie Auslandserfahrungen gesammelt. 
 

INTERPRETATION

Hier ist eine hilfsbereite Frau, die einer geflüchteten Person oder mehreren helfen möchte, aber es gibt ja individuelle Distanzzonen und vielleicht ist ihr Zuhause ihre intime Zone. Da möchte sie die Menschen, denen sie hilft, nicht reinlassen. Vielleicht hat sie Angst, sich zu sehr darauf einzulassen. In dem Moment, wo diese Menschen bei ihr zu Hause sind, ist ihr das zu nah. Vielleicht hilft ihr die räumliche Distanz, um das Ganze nicht zu sehr in ihr Herz zu nehmen. Ich glaube nicht, dass es kulturelle Gründe hat, denn ich kenne genauso Menschen, die ihre Haustür öffnen für andere Menschen und nicht solch ein Distanzbedürfnis haben. Ich glaube, es ist individuelles Verhalten und hängt vielleicht mit Ängsten zusammen, Geflüchtete zu dicht an sich heran zu lassen. Ich hätte den Schreibtisch nicht vor die Tür gestellt *lacht*, das ist mir fremd. Ich hätte da anders reagiert, hätte sie reingelassen, weil ich mir vorstellen kann, was es sonst bei der anderen Person auslöst. Die Frage, die sich Jasina stellt, kann ich absolut nachvollziehen. Die deutsche Frau ist hilfsbereit auf der einen Seite und auf der anderen Seite so distanziert. Ich kann auch verstehen, wenn das noch über ein Unverständnis hinausgeht und ein Gefühl von unhöflicher Behandlung auslöst.

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