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Fallbeispiel: Berfin H.

Berufsfrau

Berfin H. (38) flüchtete als Kind mit ihrer Familie aus den kurdischen Gebieten der Türkei nach Deutschland. Nach einer Ausbildung zur Arzthelferin holte sie ihr Abitur nach und studierte Soziale Arbeit. Seitdem arbeitet sie als Sozialpädagogin. Sie hat zwei Kinder und lebt mit ihrem Lebensgefährten in Bayern. Berfin fliegt regelmäßig in die Türkei zu Freunden und Familie.

"Relativ am Anfang der Beziehung mit meinem Freund Sascha (Deutscher) waren wir bei seiner Oma zum Essen eingeladen. Seine Mutter war ebenfalls da. Als ich mich an den Tisch setzen wollte und mir einen Stuhl aussuchte, sagte seine Mutter plötzlich: "Hier sitze eigentlich ich immer. Und da vorne sitzt Sascha. Du kannst dich dort auf die Bank setzen." Ich war erstmal völlig irritiert und hab versucht mir nichts anmerken zu lassen. Das Ganze war für mich total schwer einzuschätzen und ich wusste nicht, wie das gemeint ist. In der Kultur meiner Eltern wäre es absolut unmöglich und unverschämt einem Gast zu sagen, dass er auf einem Platz nicht sitzen darf. Gäste dürfen sich ihren Platz immer selbst aussuchen und wir als Gastgeber wollen natürlich, dass unser Gast den besten Platz bekommt!"

Junge geschäftsfrau

Lena W. (35) ist in Mainz geboren und in Berlin aufgewachsen. Dort lebt sie mit ihren zwei Kindern und arbeitet als Übersetzerin. Sie hat Romanistik und Südostasienwissenschaften studiert. Lena hat außerdem längere Zeit in Australien und in Amerika gelebt.

INTERPRETATION

Ich kenne das Verhalten der Mutter. Meine Oma war genauso, die hatte auch ihre Stühle, auf denen nur der Opa sitzen durfte *lacht*. Diese Stühle waren für Männer reserviert; wenn mein Opa nicht drauf gesessen hat, hat mein Bruder drauf gesessen oder mein Onkel oder halt sonst irgendein Mann. Erst ganz zum Schluss kamen meine Mutter und ich. Das hatte also sexistische Gründe. Bei anderen Menschen habe ich noch nie davon gehört, aber aus meinem Erfahrungsbereich kenne ich das. Ich finde das Verhalten bei einem Gast allerdings trotzdem merkwürdig, denn er kann davon gar nichts wissen und kennt die Dynamik nicht. Wenn ich persönlich einen Gast empfange, darf der sich bei mir definitiv den Platz frei aussuchen, wahrscheinlich bekommt er sogar den besten Platz. Es ist also auch eine Generationssache, die jungen Leute machen das bestimmt anders. Ich glaube, in diesem konkreten Fall ging es aber um eine territoriale Machtdarstellung. Die Mutter hat wahrscheinlich eine Konkurrenz gesehen, die um ihren Sohn buhlt und sie wollte mit dieser Geste zeigen: "Da ist mein Platz. Da ist der Platz von meinem Sohn. So haben wir immer da gesessen, so sitzen wir jetzt und so werden wir auch in Zukunft da sitzen – mit dir oder ohne dich!" Ich glaube, das war der Subtext der Situation. Es war eine Schwiegertochter-Schwiegermutter-Situation.

Interpretationen
male portrait

Pit R. (62) entwickelt Projekte im Bereich Film und Fernsehen. Seine Verwandtschaft mütterlicherseits stammt aus Italien, seine Großeltern kamen 1925 als eine der ersten Gastarbeiter aus Süditalien nach Deutschland. Pit ist in Deutschland aufgewachsen und hat ein Jahr lang in Rom gelebt. Er war acht Jahre mit einer türkischen Frau verheiratet, weshalb er auch die türkischen kulturelle Lebenswelt gut kennt.

INTERPRETATION

Es fällt mir sehr schwer, zu sagen, weshalb die Mutter so gehandelt hat. Ich würde nie auf die Idee
kommen, einem Gast einen Platz zu verwehren oder einen anderen zuzuweisen. Ich kann mir auch keine Motivation dafür vorstellen und habe es selber auch noch nie erlebt. Bei mir darf sich der Gast grundsätzlich immer seinen Platz frei aussuchen. Das ist ein Privileg, der Gast hat sozusagen das Königsrecht. Durch meine Ex-Frau habe ich auch den türkischen Kulturkreis kennengelernt. Die waren dort wahnsinnig tolerant, wahnsinnig gastfreundlich und haben uns wirklich überschüttet mit Aufmerksamkeit in einer Form, wie ich es in Deutschland nie erlebt habe. Da war der Gast immer König. So kenne ich das auch von meiner italienischen Sippe. Hier in Deutschland ist man was Gastfreundschaft angeht, meines Erachtens nach, ein bisschen zurückgezogen.

man in a jacket

Mustafa E. (29) kommt aus der Türkei und lebt seit 2017 zusammen mit seiner Frau in Deutschland. Er hat in der türkischen Stadt Konya Jura studiert und möchte sein Studium an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel fortsetzen. 

Erstens kann ich die Reaktion von Berfin nachvollziehen und denke, es könnte kulturelle Gründe für das Missverständnis geben. Meiner Meinung nach sollten ganz allgemein solche Regeln dem Gast vorher erzählt werden. Ich sehe das als eine Verantwortung des Gastgebers. Berfin konnte es ja gar nicht ahnen, dass es bei Saschas Familie eine feste Sitzordnung gibt. Vielleicht hätte er sie vorher darüber informieren können.

Zweitens finde ich persönlich das Verhalten der Mutter unhöflich. Sie hätte Berfin höflich, und nicht so direkt, erklären können, dass sie dort eigentlich sitzt. In der türkischen Kultur ist der Gast sehr wichtig und wir versuchen immer, ihm den besten Platz anzubieten und das allerbeste Essen zu servieren. Vielleicht ist das manchmal aber auch ein bisschen übertrieben *schmunzelt*. Ich kenne viele Leute in der Türkei, die in so einer Situation sofort rausgehen oder stark reagieren würden. Aber auch das fände ich unhöflich, weil ich ja Gast in dem Haus bin. An Berfins Stelle hätte ich versucht, mich einfach anzupassen.

INTERPRETATION

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