top of page

Fallbeispiel: Esam A.

lächelnder Mann in Anzug mit Brille

Esam A. ist im Jemen geboren, verheiratet und hat zwei Töchter. In Syrien hat er das Zahnmedizinstudium absolviert. Nun möchte er Materialwissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel studieren.

"Ein Freund von mir hat mir erzählt, dass er während des Deutschlernens eine Tandempartnerin hatte. Er hat sie wöchentlich getroffen, um Deutsch zu lernen und ihr Arabisch beizubringen. Eines Tages traf er sie in einem Café und er fragte: “Wie geht es dir?” Sie sagte: “Gut, danke und dir?” Er sagte: “Gut, danke und wie geht es deiner Familie?” Er war überrascht, als sich bei der Frage ihre Gesichtszüge und ihr Stimmton veränderten. Sie schien wütend zu sein. Sie sagte zu ihm: "Frag nicht nach meiner Familie" und ging weg. Leider war dies das letzte Treffen zwischen meinem Freund und der Tandempartnerin, da sie den Kontakt zu ihm abgebrochen hat."

Interpretationen

Interpretationen

ältere Frau mit weißen Haaren vor hellgrauer Wand

Frauke M. (57) ist Juristin und seit 10 Jahren in der Flüchtlingshilfe aktiv.

INTERPRETATION

Ich würde sagen, das ist ein klassisches kulturelles Missverständnis. Für die deutsche Tandempartnerin war, meiner Meinung nach, alles in Ordnung, bis zu der Frage, wie es ihrer Familie geht. Die Frage hat sie offenbar als übergriffig empfunden. Das kann ich verstehen, denn das fragt man bei uns eben nicht, das ist zu privat – es sei denn, man kennt die Familie gut, was hier offenbar nicht der Fall war. 

Umgekehrt ist das bei den Flüchtlingen, die ich kenne, so, dass sie, wenn sie sich untereinander treffen, ganz viele Begrüßungsformeln abarbeiten. Dabei wird dann auch nach der Familie gefragt und Grüße an alle geschickt und Gott segne sie usw. Bis sie mit der Begrüßung durch sind, sind schon fünf Minuten vergangen *lacht*. Deshalb glaube ich, dass er wahrscheinlich besonders höflich sein wollte, während sie die Frage als übergriffig empfunden hat. Ich finde aber, sie hat da etwas überreagiert. Vielleicht gab es vorher schon Irritationen. Denn bei dieser Frage wütend zu werden, das ist schon eine heftige Reaktion.

lächelnde Frau im grauen Pullover

Anne F. (35) ist in Kiel geboren und studiert Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihre Mutter stammt aus den Philippinen. Seit ihrer Grundschulszeit verbrachte sie dort alle vier Jahre ihre Sommerferien. Nach ihrem Hochschulabschluss lebte sie erst ein halbes Jahr auf den Philippinen und danach ein Jahr in Spanien.

INTERPRETATION

Ich denke, dass es in dem Kulturkreis, wo Esam herkommt, Sitte ist, nicht nur nach dem Befinden seines Gesprächspartners zu fragen, sondern auch nach dem seiner/ihrer Familie. Das scheint seine deutsche Tandempartnerin nicht erwartet zu haben und war auf diese Frage nicht vorbereitet. Da sie sich schon einige Zeit zuvor wöchentlich getroffen haben, hat sich vermutlich bei Esam ein engeres Verhältnis zu seiner Tandempartnerin gebildet, was ihn dazu veranlasst haben könnte, auch nach ihrer Familie zu fragen, um genau dies zu vermitteln.

Gründe dafür, dass die Person aus Deutschland das Café unerwartet schnell wieder verlassen und danach den Kontakt zu Esam abgebrochen hat, könnten meiner Ansicht nach zum einen unzureichende Kenntnis über die arabische Kultur sein, was dazu führte, dass sie sich wie vor den Kopf gestoßen fühlte und zum anderen möglicherweise Unzufriedenheit über ihre eigene Familie, die sie aus Scham nicht vor ihrem Gesprächspartner zeigen wollte. Ich denke, dass die Mehrheit der Menschen kein Problem damit hätte, das Befinden der Familie zu erwähnen, wenn kein bedrückendes Verhältnis in der Familie vorliegt.

Kulturelle Gründe, die das Verhalten der Person aus Deutschland erklären, kann ich mir für diese Situation daher nicht vorstellen, da ich ihr Verhalten als zu impulsiv einschätze. Wäre sie neutral oder positiv über die Frage überrascht gewesen, hätte sie sich sicher schnell berappelt, spontan eine für sie passende, höfliche Antwort gefunden und den Kontakt nicht abgebrochen. Sie hätte mit einem "Auch gut, danke. Wie geht's deiner Familie?" antworten können, ebenso floskelartig wie beim "Wie geht es dir - Gut, danke." Sie hätte ihn auf eine freundliche Art darauf hinweisen können, dass es in Deutschland eher ungewöhnlich ist, Menschen, mit denen man nicht so eng befreundet ist, nach der Familie zu fragen. Vielleicht ist die Tandempartnerin auch genervt darüber, dass dieses Thema in anderen Kulturen von Interesse ist oder Höflichkeit ausdrückt und hat aus Trotz reagiert. Ein Trotz, der sagt: "Immer dieses Gefrage nach der Familie. Ich hab da keinen Bock drauf!"

Da ich persönlich es als sehr nett empfinde, wenn jemand Interesse an meiner Familie bekundet, hätte ich im weiteren Gesprächsverlauf mehr über die Familie meines Gesprächspartners erfragt oder Näheres über meine Familie erzählt.

lächelnder junger Mann

Nabil Z. PLATZHaLTER

INTERPRETATION

PLATZHALTER

bottom of page